Der Komplexitätsdruck nimmt zu - wie Management und HR ihn dosieren können

Walter Braun

Von Walter Braun

Seit jeher sind Betriebe im ständigen Wandel und gezwungen, sich an neue Bedingungen anzupassen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Mal mehr, mal weniger greifen nun aber digitale Technologien radikal in die bestehenden Geschäftsmodelle so rabiat ein, dass der Niedergang mancher Branchen innerhalb weniger Jahre vorprogrammiert scheint.

Streamingdienste attackieren den physischen Tonträgerhandel, 3-D-Druck den mechanischen Prototypenbau und Apps die materialbezogene Schlüsselfertigung. Waren früher solche Umbrüche eher schleichend, sind sie heute unmittelbar und disruptiv.

Paradoxe Veränderungswelt

Die Zeit, darauf zu reagieren, wird immer kürzer. So stellt notwendigerweise die herstellende Industrie die Kompassnadel auf „Industrie 4.0“ bzw. auf digital vernetzte Prozesse. Auch die gesamte Dienstleistungsbranche ist gut beraten, ihre Geschäftsmodelle zu überdenken, wenn sie Zukunft erleben will. Unabhängig von Branche und Größe sind Unternehmen im Vergleich zu früher dynamischeren und intensiveren Wandlungsprozessen ausgeliefert: ob sie wollen oder nicht. Internet, Big Data und Co. bringen Konzerne zum Erodieren und Start ups zum Explodieren. So nach und nach dringen die sicht- und hörbaren Einschläge der kreativen Zerstörung analoger Geschäftsmodelle ins Bewusstsein. Aber offenbar nicht so tief, dass die old economy ihre gewohnte Ruhig-Blut-Strategie zur Disposition stellt. Man mag nur noch den Kopf schütteln, wenn man in einer repräsentativen Unternehmensbefragung der bitcom liest, dass 62 % der befragten Unternehmen auf die gezielte Entwicklung von digitalen Kompetenzen ihrer Mitarbeiter verzichten und sogar 68 bzw. 70 % über keine Digitalstrategie und eben noch weniger über ein Budget dafür verfügen. Aber gleichzeitig ist die Mehrheit von der Digitalisierung der Wirtschaft beeindruckt und betroffen. Es ist paradox: Einerseits weiß man um die Herausforderung, andererseits zögert man, zu handeln.

Geschäftsmodelle vom Ende her denken

Das Klein-Klein und Weiter so unter drastischen Wettbewerbsbedingungen sind Totenglocken der Zuspätgekommenen. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, aktionistisch einem Trend zu folgen, sondern ein bestehendes Geschäftsmodell vom Ende her im Kontext eines heute schon vermuteten und morgen ggf. existenten Kontextes zu betrachten.  Auf Fortschritt ausgerichtete Organisationen stellen immer mal wieder ihr Geschäft auf den Prüfstand. Sie spielen Worst-Case-Szenarien durch, indem sie es hypothetisch als gescheitert betrachten und die Gründe dafür diskutieren. Das schärft ihre Sinne für Anfälligkeiten , aber auch für Alternativen. Man muss dafür auch nicht ins „Valley“ touren: der kreativen Kraft des eigen Geistes vertrauen genügt.

Vor und während einer Veränderung fallen der Personal- und Organisationsentwicklung dabei die Rollen des Innovators und Gestalters zu. Sie dosieren den aufkommenden Druck auf die Entscheider mit nachvollziehbaren Struktur- und Personalperspektiven. Insbesondere aber konzipieren und handeln sie im Bewusstsein, dass Veränderungen Zeit, Geduld und breite Planungskorridore benötigen.

Transformation ist komplex und dauert

Denn was für alle Betriebe gilt – vom Maler- bis zum Industriebetrieb, ist ein enormer Anpassungsdruck mit vielen Unbekannten. Die Unterschiede liegen in der Dringlichkeit. Die Wichtigkeit gilt für alle. Der Anpassungsdruck manifestiert sich heute schon in

  • Reaktionsschnelligkeit – um den Anforderungen an den Innovationen, Kompetenzen und    Zusammenarbeit gerecht zu werden,
  • neuen Formen der Zusammenarbeit im Rahmen von vernetzten, fachübergreifenden Arbeitsgruppen,
  • vernetzten Ablaufprozessen, die das lineare Organigrammhandeln durch agile Formate ersetzen (welche z. B.),
  • der Digitalkompetenz von Fach- und Führungskräften, um digitale Trends verstehen und beurteilen zu können
  • neuen Anforderungen und neuen Jobs, die traditionelle zunächst ergänzen und dann ablösen.
  • Einer Hierarchieerosion aufgrund von vernetzten und flexiblen Arbeitsformaten,
  • Crowdworking, das temporär Wissen und Erfahrung von vielen vernetzt und nutzt sowie
  • in horizontalen Kooperationen und strategischen Allianzen zwischen analoger und digitaler Wirtschaft wie es etwa Leica und Huawei seit Neuem praktizieren.

Wer in diesem Transformationsturbo erfolgreich sein will, muss in Zeit, Menschen und ihre Potenziale investieren. Der Komplexität und dem digitalen Neuland können mit alten Rezepten und coolen Sprüchen kaum mehr begegnet werden. Ein radikales Umdenken ist angesagt.

HR schafft die Kultur, Management verantwortet sie

Eine einigermaßen vorausschauende Personalentwicklung trägt zur Bewältigung solcher Anforderungen bei, indem sie spezifische Fähigkeiten und innovative Formate zu deren Entwicklung definiert. Die Kunst liegt dann darin, dass sie sich nicht in Details verliert und meint, mit dem 25. Aufguss eines Leadership-Assessments für die Zukunft gerüstet zu sein, sondern besonnen und systemisch auf die Voraussetzungen und Konsequenzen des digitalen Wandels abhebt. Dafür gibt es keine Blaupausen: nur Plausibilitäten oder Vermutungen und den Zwang zum deduktiven Vorgehen. Also zum Ableiten von Fähigkeiten, die in der betrieblichen Zukunft vermutlich eine Rolle spielen werden. Dies geht nicht ohne Demut vorm Gelingen, Akzeptanz von Rückschlägen und Mut zum Experimentieren. Den Boden dafür muss die Personalentwicklung beackern, das Management projektverantwortlich sein. Nur so wird ein herausfordernder Wandel als gewollt und verbindlich wahrgenommen.

Die Praxis zeigt, wie es gehen kann

In einem Transferprojekt eines großen Maschinenbauers ergaben sich in diesem Denkrahmen zwei zentrale personenbezogene Eigenschaften und zwei zentrale aktivitätsbezogene Maßnahmenfelder, auf die die Personalentwicklung zur Bewältigung der strategischen Anforderungen seit fast zwei Jahren hinarbeitet:

  • Vernetztes, systemisches Denken und Handeln der Fach- und Führungskräfte, um mit     Komplexität einigermaßen umgehen zu können, und
  • Diversity-Mentalität, um aus der Vielzahl von Sichtweisen und Kulturen Impulse zu erhalten.
  • Know-how-Transfer als Effizienzreserve und
  • kollaboratives Lernen und Arbeiten, um Expertenwissen zu teilen und Strukturen operativ zu flexibilisieren.

Die Formate zur Kompetenzentwicklung haben sich dahingehend verändert, dass aus Seminartagen ein „Integriertes Lernen“ am Arbeitsplatz entstand. „Microsessions“  in Arbeitsbesprechungen, moderierte Erfahrungszirkel, arbeitsimmanente Lernstrukturen mit Lessons-learned-Ansätzen im Dialog mit Kollegen und Vorgesetzten und die klassischen Formen von Coaching und Supervision von Steuerungsgruppen sind neben Großgruppenveranstaltungen die Bildungsformate dazu. Mitarbeiter werden nicht mehr beschult, sondern diskutieren miteinander, recherchieren selbst nach Informationen und Antworten, puzzeln aus kleinen Lösungsideen große Zusammenhänge und betreiben ergebnisoffen ihren eigenen Lernprozess. Das braucht alles keine großen Technologien oder modern klingende Buzzwords, sondern einfach eine offene und vertrauensvolle Interaktion zwischen den Beteiligten und die Verankerung ganz oben. Noch ist es ein zweijähriges Pilotprojekt in Marketing und Vertrieb. Bald, so der verantwortliche Personalentwickler, jedoch eine Roadmap für das gesamte Unternehmen.

Kommentare

Die neue Veränderungsgeschwindigkeit verträgt sich nicht mit der alten Sehnsucht nach Beständigkeit. Alles Neue ist nach Vester der Feind des Alten. Da es uns aber überfordert, noch Unbekanntes zu ahnen, verweilen wir gern bei den bekannten Rezepten von Gestern. Und wenn's dann schiefgeht, waren's eh die anderen.

Die Zukunft wird ungewiss sein, wie sie schon immer war. Gewiss ist jedoch, dass sie komplexer Natur ist. Ergo wird das Mindset der Mitarbeiter entscheidend sein: experimentierfreudig und agil oder bewahrend und absichernd. HR und Management müssen dem ersten Paar zugeneigtbsein, damit sie zukunfttauglich "dosieren" können.

Es ist mehr als natürlich, dass Chefs erst einmal beim Alten bleiben, wenn sie noch keine Vorstellung über das Wie einer Transformation haben. M.M. nach ist dann Abwarten besser als blinder Aktionismus. Allerdings teile ich die Aufforderung zum radikalen Umdenken. Das macht aber kein Mensch von sich aus. Erst dann, wenn er die Notwendigkeit spürt und aktiv darin unterstützt wird. Hier muss HR seine Rolle erst noch finden. Denn auch dort scheuen Menschen das Neue.

Dosieren lässt sich der Komplexitätsdruck auch dadurch, dass nicht auf Sicht gefahren und improvisiert wird, sondern, dass Optionen für mehrere Zukünfte entwickelt werden. Das schafft eine subjektiv empfundene Handlungskompetenz und ist Teil einer aktiv gestalteten und nicht unausweichlichen Zukunft.

Fachliche Expertise wird zwar nicht geopfert, tritt aber bei Mitarbeiterführung ins 2. Glied zurück. Verteilte Führung holt die Menschen in ihrer Selbstmotivation ab und setzt Lernprozesse für den Umgang mit unsicheren Situationen ingang. HR muss für den culturfit sorgen und das Management dies definitiv wollen.

Ich bin mir nicht sicher, ob das alles nicht nur Beraterwunsch ist, um an Aufträge zu kommen. Schon immer hat der Markt den gestraft, der zu spät reagiert. Schon immer ist alles miteinander vernetzt und schon immer dominiert, zumindest in der Industrie, die "kreative Zerstörung" von Produkten und Geschäftsmodellen. Und: Schon immer begleiten Berater die Unternehmen in ihrem Wandel. Das Beschwören von Komplexität kann also eingestellt werden.

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