Stärken Stärker ziehen wieder über Land

System Management

Von Walter Braun

„Nutze die Stärken deiner Stärken und meide das Schwächen deiner Defizite!“ So oder ähnlich lauten die scheinbar vernünftig klingenden Überschriften eines allerdings falsch verstandenen Positivdenkens.

Wer will nicht seine Sprachgewalt noch stärker, seine Analysefähigkeit noch feiner, seine Gelassenheit noch entspannter oder seine Geselligkeit noch intensiver in den Dienst seines beruflichen und privaten Lebens stellen? Wohl niemand! Und Hilfe dazu gibt es immer mehr. Die Positivcoaches sind nämlich wieder unterwegs und es ist wie beim bekannten Murmeltiergruß: Die Botschaften des Stärkedenkens kehren in farbenfrohen Kleidern und unterschiedlichen Begriffen immer wieder zurück.

Feinschliff, Brillanz, Leistungsexplosion, Authentizität, Erfolg, Sinn und was sonst noch alles versprochen wird bis sich die psychischen Balken biegen, sind die mächtigen Ergebnisse des Stärke fixierten Dogmas: Fördere deine Stärken anstatt deine Schwächen auszumerzen!

Hier kommt ein mechanistisches Menschenbild zum Tragen, das schlicht und einfach verkennt, dass die menschliche Realität von Stärken und Schwächen gleichermaßen gekennzeichnet ist - diese sich in je situativer Abhängigkeit sogar ins jeweilige Gegenteil verkehren. Defizite etwa im gründlichen Analysieren schwieriger Probleme mutieren zu Stärken in komplexen Situationen, in denen Handlungsdruck und Unbestimmtheit vorherrschen. Eine zur Tat drängende Entscheidungsfreude behindert kreatives Nachdenken oder ein forsches Auftreten und Durchsetzen die soziale Achtsamkeit.

Wer angesichts dieser Realität auf das Fokussieren von Stärken setzt, veralbert die Komplexität des Menschseins. Wer die Karten der Stärkestärkung zieht, vergrößert seinen blinden Fleck. Wer das Positivdenken forciert, riskiert mangels Handlungsalternativen Frustration beim Scheitern. Wer als Coach in dieser Einseitigkeit agiert, reiht sich ein in die Gauklergruppe des Psychozirkus.

Stärken und Schwächen sind nicht absolut zu sehen, sondern situativ zu differenzieren. Damit schafft man sich größere Handlungsoptionen und kann mit vermeintlichen Schwächen gelassener umgehen und sie als Stärke realistisch erden.

Die Sucht nach immerwährendem Glück und Erfolg führt oftmals dazu, sich mit Naheliegendem und Erfolgsversprechendem lieber zu beschäftigen, als mit herausfordernden und möglicherweise nicht gelingenden Absichten. Fortschritt und Entwicklung finden aber immer erst am Ende der Komfortzone statt. Dann, wenn die Verblendungen durch einfache Rezepte oder das Ignorieren von individuellen Grenzen erkannt werden.

Menschen in ihren Veränderungswünschen ernst nehmen, bedeutet in erster Linie mit ihnen herauszuarbeiten, welche Talente, Schwächen und brachliegenden Potentiale sie besitzen. Daraufhin deren Komfortwert je Situation zu erkennen und Verhaltensabsichten mit den je eigenen Werten und Motiven zu verbinden und sie zu kontextualisieren, um fördernde und hemmende Bedingungen erkennen und beeinflussen zu können. So können dann schrittweise und auf der Basis einer Transparenz der eigenen Ressourcen neue Verhaltenskompetenzen als Leitfaden für ein gelingendes und authentisches Leben aufgebaut werden. Im Unterschied zu den Stärken Stärkern sensibilisiert dieser Coachingansatz für die Kontextualisierung der vermeintlichen Schwächen und Stärken. Hürden und Widerstände im innersten eines Menschen werden sichtbar und Strategien zum Durchbrechen der Widerstände und Alltagsroutine nachvollziehbar.

Kommentare

Typisch für den exzessiv gelebten Optimierungswahn: Nur wer noch mehr aus seinen Fähigkeiten herausholt, kann im Stühlerücken seinen Platz behalten. Die im Blog erwähnten " Stärkenstärker" erweisen ihren Schützlingen und Jüngern einen Bärendienst, da mit ihrer Indoktrination der Blick auf Grenzen der Fähigkeiten getrübt wird. Und Blinde laufen gelegentlich an die Wand

Digitalisierung und Vernetzung sind die technischen Leitplanken einer neuen Wertschöpfungskultur. Wer unter solchen Bedingungen seine Limitierungen im Denken und Handeln ignoriert, handelt fahrlässig. Er übersieht nämlich, dass Situationen, die eben noch überschaubar waren jetzt völlig chaotisch sind, und der selbe Mensch aber weiterhin damit konfrontiert ist. Wenn er sich über seine Stärken und Schwächen dann nicht klar ist, kann er kaum angemessen reagieren.

So wenig wie es nur Schwarz oder Weiß gibt, so wenig gibt es nur Gut oder Schlecht. Es sind jeweils nur Endpunkte eines Kontinuums im eindimensionalen Verständnis. Reales Leben hat aber mehrere Dimensionen und Sichtweisen. Wer den Perspektivwechsel beherrscht, wird nicht verabsolutieren. Er wird differenzieren. Dies zu ermöglichen, sollten sich die Schulungsabteilungen verpflichten.

Mich wundert es nicht, dass die rhetorischen Blender und Nr.1 Trainer ohne große Differenzierung und den gesunden Menschenverstand missbrauchend von scheinbar plausiblen Verhaltensmodellen fabulieren. Sie stehen auf einfache Lösungen, denn nur die bringen Geschäft. Außerdem braucht ein professionelles Vorgehen solide Ausbildung und mehr als nur die Kenntnis von trivialen Ratgeberbüchern.

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