Wie man sich für das Meistern von Komplexität fit halten kann

System Management

Von Walter Braun

Komplexität begegnet Unternehmen ständig und gehört zu ihrem betrieblichen Alltag beim Positionieren und Behaupten in Märkten, Gewinnen und Halten von Mitarbeitern, Entwickeln von Menschen und Strukturen. Bei hohem Innovationsdruck und –tempo verliert man gerne auch schon mal den Überblick. Und das ständige Disruptionsgetöse treibt die Unsicherheit noch mehr an. Alles fließt und alles hängt mit allem zusammen. Dennoch ist Komplexität aber eher selten das Objekt spezieller Maßnahmen, um solchen Anforderungen gerecht werden zu können.

 

Fach- mit systemischer Expertise ergänzen

 

Komplexe Situationen erfordern nicht nur Weitblick, sondern auch die Integration verschiedener Sichtweisen und Demut vorm Nichtwissen. Diese grundsätzlichen Anforderungen gehen weit über die fachlichen Kompetenzen von Mitarbeitern hinaus. Diese machen zwar ggf. Karriere, wenn sie ihre fachliche Expertise voll zur Entfaltung bringen, scheitern aber gerade deswegen in komplexen Situationen, weil sie oft nicht unabhängig von ihren Erfahrungen neue und ungewohnte Lösungen und Szenarien entwickeln können, sondern eher beim Alten und Bewährten bleiben. Komplexe, mehrdeutige und vielschichtige Situationen sind ja gerade typisch dafür, dass es zu deren Bewältigung keine Blaupausen oder standardisierten Vorgehensweisen gibt - sonst wären sie ja nicht komplex. Wer sie meistern will, muss andere Einstellungen und Fähigkeiten als Fachexpertise entwickeln. Dazu gehören etwa die Bereitschaft und das Bestreben

  • vernetzte Zusammenhänge systemanalytisch zu betrachten,
  • sich iterativ aus Versuch und Irrtum Lösungsoptionen zu erarbeiten,
  • Funktionsprinzipien einer Situation zu erkennen,
  • mit ersten und vermeintlich plausiblen Lösungen konstruktiv unzufrieden zu sein,
  • lineares Wenn-Dann-Denken durch systemische Vorgehensweisen zu ersetzen.

Gewohnte und routinierte Verhaltensweisen sind dafür jedenfalls kontrafaktischer Natur. Da sie aus kulturell gepflogenen und daher gut gelernten Arbeits-, Führungs- und Managementmethoden entstanden sind, sind sie für den Umgang mit neuen und vieldeutigen Situationen kaum geeignet.

 

Gewohnheiten revidieren

 

An die Stelle von Erfahrung und Wissen treten nun

  • die Revision von Einstellungen, Denkstilen und Wahrnehmung sowie
  • das Anwenden systemischer Methoden wie etwa Systemanalysen, Netzbilder, Matrix, Simulation etc.

Beide Ebenen sind ungewohnt und erzeugen unbewussten Widerstand, weil sie Routinen und Gewohnheiten im Wege stehen. Durch spezielle Trainingsformate wie etwa Erfahrungslernen oder arbeitsplatzimmanente Trainings können sie aber entwickelt werden. Mit gelenkter Reflexion werden die personentypischen Arbeitsweisen und Routinen systemischen Arbeits- bzw. Verfahrensweisen gegenübergestellt. So können dann individuelle Wahrheiten über den „richtigen“ Weg relativiert und ungewöhnlichen Ideen und Szenarien Sinn und Zweckmäßigkeit verliehen werden. Im gewissen Sinne emanzipieren sich die Teilnehmer so vom schnellen und intuitionsgeleiteten Denken und können ihre Denkfallen früher erkennen und Alternativen für ein angemesseneres Vorgehen entwickeln.

Wer sich im Meistern von komplexen Situationen trainieren möchte, sollte darauf achten, dass er  am Ende in der Lage ist,

+ Komplexität in ihrer Struktur zu erkennen,

+ von seinem Erfahrungswissen zu abstrahieren,

+ seine individuellen Denkstile und –fehler wahrzunehmen und ggf. zu reduzieren sowie

+ systemisch angelegte Vorgehensweisen und Methoden anzuwenden.

 

Komplexität erkennen?

 

Wenn man sich nun fragt, wie sehen komplexe Situationen aus und worin unterscheiden sie sich etwa von vielleicht nur komplizierten oder einfachen Situationen, kann man empirisch sehr gut belegte Merkmale nutzen. Etwa:

  • Unterschiedliche Einzelaspekte einer Situation. So hängt etwa Arbeitszufriedenheit gleichzeitig von Führung, persönlichen Erwartungen, Kollegen, Karriereaussichten, Entlohnung, Arbeitsinhalten uvm. ab.

 

  • Vernetzungsgrad und –intensität von Situationsmerkmalen. So mag etwa einen mangelnde Kollegenunterstützung zu persönlichen Enttäuschungen führen, diese zu passivem Verhalten, was den Vorgesetzten zur Kritik veranlasst, die eine in Aussicht gestellte Beförderung fragwürdig macht, was zur weiteren Enttäuschung führt,... .

 

  • Neben- und Fernwirkungen der Merkmale. Die innere Kündigung bedingt Motivationsverluste, die die termingerechte Erledigung von Aufgaben gefährdet, was zu unzufriedenen Kunden, Auftragsverlusten und Imageschäden führen kann.

 

  • Dynamische Veränderungen. Situationsmerkmale bleiben i. d. R. nicht statisch, sondern verändern sich über die Zeit. Wer zu spät Marktsignale erkennt, tut sich schwer, Absatzmärkte zu erschließen, weil andere die Zeichen der Zeit früher erkannt haben. Oder aus einer anfänglich nicht weiter beachteten Enttäuschung kann eine veritable innere Kündigung und illoyales Verhalten erwachsen. Gerade die sogenannten schwachen Signale werden in komplexen Situationen oft unterschätzt, weil sie so unbedeutend erscheinen.

 

  • Unsichere Maßnahmeneffekte. Man weiß nicht genau, welche Ergebnisse eintreten, wenn man bestimmte Entscheidungen trifft. Bringt etwa eine Weiterbildungsmaßnahme den notwendigen Qualifikations- und Motivationsschub oder ist mit der Aussicht auf Karriere auch die Belastungsbereitschaft größer? Die Gefahr in komplexen Situationen ist allgegenwärtig, in Maßnahmen zu investieren, ohne den Erfolg davon zu kennen und am Ende mit Nichts dazustehen.

 

Mit einem solchen Raster kann man die Komplexität in ihrem Ausmaß beurteilen und seine Handlungsplanung danach ausrichten. Wenn etwa zwar eine hohe Vernetzung aber eine geringe Unsicherheit bezügliche der Maßnahmeneffekte besteht, kann man bei guter Planung offensiv vorgehen, weil man vor allzu großen Überraschungen verschont werden wird. Eine gute Gelegenheit,  komplexe von komplizierten Situationen zu unterscheiden. Letztere sind zwar vernetzt, aber  in ihren Nebenwirkungen und Dynamiken überschaubarer. Zumindest, wenn man akribisch die jeweiligen Beziehungen der Merkmale zueinander analysiert und bewertet. Mit verschiedenen praxisbezogenen Fragestellungen stellen sich so die Teilnehmer auf vielschichtige Situationen ein und entwerfen zu deren Bewältigung flexible Handlungsstrategien.

 

Systemisch handeln  und wie’s gehen kann

 

Flexibilität in strategischen und verhaltensbezogenen Belangen wird in komplexen Situationen zur notwendigen Anforderung an die handelnden Personen! Die Mehrheit von Führungstrainings vermittelt aber eher Wissen und Methoden und ist auch bei enger Praxisorientierung an Wenn-Dann-Formaten ausgerichtet. Im Stile von, man nehme etwas Gesprächstechnik, würze es mit aktivem Zuhören, ergänze es mit einem Netzdiagramm und destilliere die Prioritäten daraus und schon hast du dein Erfolgsrezept, mechanisiert man die Problemlösung. Und scheitert! Im besten Glauben jedoch, das Richtige getan zu haben. Handeln in komplexen Situationen ist selbst komplexer Natur. Mit verhaltensidealisierten Ansätzen oder in „Sechs Schritten zum Erfolg“ kommt man da nicht weiter. Die Rezeptverkünder gaukeln Machbarkeit vor, wo Demut vorm Gelingen angemessener wäre. Wenn es überhaupt eine Empfehlung geben kann, dann die zum proaktiven Lernen neuer Vorgehens- und Verhaltensweisen.

Aus der Kritik an „Old-School-Formaten und den grundsätzlichen Überlegungen zu Komplexität resultieren vier Trainingsdomänen:

+ die der Grundhaltung,

+ die der Denkstile,

+ die der Systemischen Methoden und Vorgehensweisen sowie

+ die des Erfahrungslernens.

Bei allen vier Domänen geht es nicht nur um inputorientierte Kenntnisvermittlung, sondern um eine reflektierende Integration von individuellen und gruppenbezogenen Erfahrungen und Expertisen, die auf der Grundlage von systemischen Ansätzen vollzogen wird.

So werden etwa zur Klärung der Denkstile bei interaktiven Problemlöseaufgaben individuelle Präferenzen sichtbar, hinsichtlich ihrer Angemessenheit beurteilbar und Alternativen dazu diskutierbar. Allgemeine Denkparadoxien wie etwa, dass man schnell mit einigermaßen plausiblen Lösungen zufrieden ist und „Out of the box“-Denken eher Wunsch als Wirklichkeit ist, weil der kognitive Mehraufwand unbewusst von Kontrollbedürfnissen sabotiert wird, können so spielerisch erfahrbar und damit auch verändert werden.

Auch der Erwerb von systemischer Methodenkompetenz erfolgt reflektorisch. Praktische Fragestellungen  und deren methodische Bearbeitung zeigen dabei den Charme aber auch die Grenzen etwa von Mintzberg-, Rope- und Sankey-Diagrammen oder Szenario-, Matrizen-Netzbild- und Simulationstechniken auf.

Komplexitätsrobust sind Menschen dann, wenn sie nicht auf langjährig abgespeichertes Vergangenheitswissen vertrauen, sonder heuristisch durch Versuch und Irrtum neue Lösungswege finden und mit einer Portion systemischer Handlungskompetenz herausfordernden Situationen begegnen können, ohne von großen Selbstzweifeln gelähmt zu sein. Das genau kann man trainieren. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger!

 

 

 

 

 

 

Kommentare

Man muss nicht allen Moden hinterhergehen, aber wer heute wie auch schon früher Neues wie das Alte behandelt, verkennt die faktischen Bedingungen. Nämlich, dass neuartige Situationen keine Vergangenheit haben. Also auch keine bereits bewährten Lösungen. Dieses Umdenken fällt unendlich schwer, weil wir gerne wissen möchten, was zum Erfolg führt. Erfolgsgarantien sind heute aber unmöglich: schon allein wegen der vielen Unbekannten in Entscheidungssituationen.

Interessante "Domänen", um die Handlungskompetenz für das Bearbeten komplexer Themen zu verbessern! Meiner Erfahrung nach hilft es Entscheidern sehr, Problemlagen in ihren inhaltlichen, zeitlichen und sozialen Aspekten zu betrachten. Damit entsteht ein umfassenderes Verständnis für die Abhängigkeiten einzelner Fragestellungen und ein größerer Sinnzusammenhang der komplexen Sachverhalte. Es wird auf diese Weise zur "Routine", unterschiedliche Perspektiven einzunehmen.

Solange Manager der Maxime "Alles ist machbar" anhängen und "Geht nicht!" Mit "Gibt's nicht!" quittieren, bleiben sie komplexitätsdumm. Fit kann man sich also auch dadurch machen, das man die Kulturschablonen der Managerdenke rigoros zerstört und mit einer Reflexionskultur ersetzt. Wir sollten mal darüber bei nächster Gelegenheit reden.

Viele Manager reduzieren Komplexität, indem sie sie ignorieren und weitermachen wie bisher. Wenn's dann kracht, waren sowieso die anderen schuld. Man nennt das wohl, sich einen schlanken Fuß machen. Wer sich also fit machen möchte, sollte zuerst seine Einstellung zur eigenen Vergangenheit ändern.

In Umbruchzeiten kann man nicht auf Rezepte der Vergangenheit setzen. Alles muss auf Null gestellt und neu gedacht werden.

Komplexität ist immer noch eine weit unterschätzte Herausforderung. Obwohl systemische Methoden bekannt sind und Komplexität auch kaum mehr infragegestellt wird, gelingt der professionelle Umgang mit dieser Herausforderung immer noch nicht. Mir drängt sicherer Verdacht auf, dass das mit der Verweigerung eines neuen Denkens zu tun hat: Es ist schwer zu akzeptieren, dass, was einmal richtig war, jetzt falsch sein soll. Deswegen ist gerade der letzte Absatz so wichtig.

Das tägliche Business hindert uns alle, über abstrakte Begriffe wie Komplexität nachzudenken. Das ist sicherlich falsch, da die Ursachen von Ereignissen vielfältig und kaum noch zu erkennen sind. Der neue Protektionismus Trumpscher Prägung zeigt die komplexen Auswirkungen einzelner Entscheidungen. Aufwachen! Die Sensibilisierung aller wird zur Gemeiinschaftsaufgabe von Unternehmen, Verbänden und Politik. Danke für die "Nudges"!

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